Eisiges Gestade – Offroad durchs Baltikum

Winter 2023: Auf unserer Rückreise von Tallinn wählten Marco und ich eine küstennahe Route gen Polen. Unterwegs trafen wir auf unzählige Spuren der ehemaligen Sowjetarmee. Winterpisten, Schnee und Kälte setzten auf der Reise nicht nur uns, sondern auch den Fahrzeugen zu.

Kalte Nächte, Kalter Krieg

Freitag, 24. Februar 2023

Mehr schlitternd als fahrend bewegen wir uns langsam über eisige Schneepisten entlang der estnischen Ostseeküste westlich von Tallinn. Weder meine noch Marcos AT-Reifen haben den winterlichen Straßenverhältnissen nennenswerten Grip entgegenzusetzen – Winterreifen lautet hier das Stichwort, das offenbar in der Vorbereitung an uns vorbei gegangen ist.

Unser Tagesziel ist die Hara-Bucht, in deren Schutz die betonierten Überreste einer sowjetischen Marinebasis vor sich hin rotten. Die vergangenen zehn Tage haben wir das gesamte Baltikum querfeldein auf den Spuren der Waldbrüder durchkreuzt – Partisanen, die auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg den sowjetischen Besatzern zusetzten. Doch dieses Kapitel unserer Tour ist nun abgeschlossen und wir widmen uns auf dem Rückweg nach Hause nun noch intensiv dem baltischen Gestade.

Unterwegs in Estland

In der Nähe von Hara angekommen, lichtet sich der Kiefernwald und gibt die Sicht frei auf die großangelegte Stahlbetonkonstruktion in der Bucht. Monochrome Fotografien und QR-Codes erzählen von der Geschichte der Basis, welche als Forschungs- und Testgelände für Kriegsschiffe erbaut wurde. Einst wurden hier Schiffe und U-Boote entmagnetisiert – so sollten sie immun gegen Seeminen und schwerer aufzuklären sein. Heute, 30 Jahre später, dienen die einsturzgefährdeten Ruinen nur noch als Refugium für Biber und Möwen.

Ganz in der Nähe schlagen wir unser Nachtlager nahe der Ostsee auf. Die abendlichen Temperaturen liegen nur ein paar Grad unter Null, für uns ein lauer Sommerabend, hatten wir es erst kürzlich mit nächtlichen Temperaturen von 20 °C unter Null zu tun. Mit der fortschreitenden Reise haben wir uns jedoch daran gewöhnt: Dick gefütterte Arbeitshandschuhe schützen unsere Hände vor Kälte – beim Feuerholz Hacken, Grill Vorbereiten und beim Aufbau von Standheizung und Zelt.

Das Abendmahl brutzelt am Flammbrett und das Lagerfeuer wärmt, leise surren die Standheizungen und wärmen Dachzelt und Jeep vor. Nur einen Schneeballwurf entfernt rauscht die schwarze See am weißen Gestade. Solch raue Küstenabende haben für mich stets einen besonderen Charme. Vor der Nachtruhe schaue ich noch einmal durch das Dachzeltfenster gen Meer – nichts als Dunkelheit da draußen.

Wintercamp an der Ostsee

Am Folgetage schwenken wir auf unbefestigten und verschneiten Pisten gen Süden. Weitere Relikte des Kalten Krieges stehen auf unserer Agenda, darunter auch ein sowjetischer Pilotenfriedhof. Das besondere hier: Als Grabsteine dienen ehemalige Höhen- und Seitenleitwerke.

Die Insel

Sonntag, 26. Februar 2023

Die Fähre nach Saaremaa stampft durch den Eisbrei der Ostsee, und wäre die See gänzlich zugefroren, so würde auch die Eisstraße gen Insel eröffnet sein. Als sich nach 20-minütiger Fahrt die Bugklappe öffnet, peitscht uns ein eisiger Wind entgegen. Querfeldein erkunden wir auf verschneiten Wegen und verwehten Straßen die Insel und die einstige Flugabwehrraketen-Basis Dejevo. Zur Zeit des Kalten Krieges war das gesamte Eiland praktisch sowjetisches Sperrgebiet – heute jedoch ist es ein Ort der aktiven Freizeitgestaltung. Davon zeugen hier Discgolfkörbe und geschobene Pisten für Spaziergänger und Langläufer.

Unsere Regel für die Tour: Alle drei Tage eine Unterkunft – für die porenreine Körperpflege, ein warmes und frisch bezogenes Bett, sowie für die allgemeine Motivation. Entsprechend beziehen wir am Abend eine abgeschiedene Ferienwohnung nahe der Festlandfähre. Die Duschzeit darf 10 Minuten nicht unterschreiten und der Heizungsregler wandert auf Anschlag. Ein willkommenes Wohlfühlerlebnis nach den kalten Tagen in der rauen Natur Estlands.

Nice cars guys! You are crazy to camp in winter times!

– Vermieterin auf Saaremaa im 26. Februar 2023

Das Land der Kuren

Montag, 27. Februar 2023

Erst am Morgen fällt mir der dicke Eispanzer am Fahrzeug auf. „Hoffentlich startet der Motor“, eine Sorge, die mich jeden Morgen plagt, erscheint mir die Originalbatterie doch mittlerweile recht ausgelutscht. Doch die Furcht ist unbegründet: Zwar schwerfällig, aber ohne Mucken husten die beiden Fahrzeuge blau-grauen Qualm aus.Von Saaremaa über die Küstenstadt Pärnu folgen wir der Europastraße 67 gen Süden, die Ostsee immer im Beifahrerfenster. Dabei passieren wir die Grenze zu Lettland und lassen Riga rechts liegen.

Kurze Rast an der Ostsee

Wie ein löchriges Laken legt sich der Schnee über die Weinhügel von Sabile. Windschiefe hölzerne Strommasten und marode Holzhäuser ziehen an uns vorbei. Im Westen nähert sich die lettische Wintersonne dem weißen Horizont in ihrer roten Pracht. Marco und ich biegen in die Einfahrt eines alten Weinhofs ein. Als wir uns zu Fuß dem Hauptgebäude nähern, öffnet sich vernehmlich knarzend die Eingangstür aus Holz. Ģirts, ein junger Weinbauer, begrüßt uns lächelnd: „Herzlich willkommen in Kurzeme, dem Kurland!“

Ihr seid meine ersten Gäste dieses Jahr, heute könnt ihr kostenlos bei mir stehen!

– Ģirts, im Februar 2023

Ģirts führt uns am Folgetag durch seinen Weinkeller und lädt zur Verkostung ein. Zwar kenne ich Weine aus diverseren Ländern, würde mich aber nicht annähernd als Kenner bezeichnen. Den hiesigen Geschmack würde ich als „feudal“ bezeichnen, der damit meinen Gaumen nicht so recht erfreuen kann. Ich kaufe dennoch zwei Flaschen – für die Familie sollte es reichen.

Stellplatz bei Ģirts im Panorama von Sabile

Abermals sind wir auf Pisten und von Schlaglöchern durchzogenen Straßen unterwegs – durch Kiefernwälder, entlang verlassener Fabriken und schiefer Holzhäuser geht es weiter nach Norden. Unser Ziel ist die Geisterstadt bei Irbene mit ihren Radioteleskopen. Die Anlage wurde einst von den Sowjets zu Spionagezwecken errichtet und auf den Namen „Kleiner Stern“ getauft. Mit dem Abzug des Militärs gingen die Teleskope in lettische Hand über, wurden restauriert und einem wissenschaftlichen Forschungszweck zugeführt. Interessant sind die nahen, zerfallenen Gebäude, welche zwangsläufig an einen Metro Roman von Gluchowski erinnern. Oder vielleicht an das Setting der Computerspielreihe „Stalker“?

Tauwetter

Mittwoch, 01. März 2023

Nach einer weiteren Nacht bei Ģirts liegt Kurzeme nun hinter uns, nahe der Küste bahnen wir uns an unserem letzten Reisetag einen Weg gen Süden. Die einsetzende Schneeschmelze verwandelt Pisten und Wege in schmierige Lehmbahnen, deren Spritzer sich flächendeckend auf der Karosserie verteilen. Nordöstlich von Klaipeda stoßen wir auf ein ehemaliges Raketensilo der Sowjetarmee. Da wir abermals die einzigen Besucher sind, streifen wir auf eigene Faust durch die Anlage. Texte, Bilder und Filmmaterial helfen uns beim Verstehen des Silos und seiner einst nuklearen Fracht.

Am Nachmittag trennen sich unsere Wege. Marco plant die Fähre von Liepāja nach Travemünde zu nehmen, ich hingegen wähle den Überlandweg über Polen nach Deutschland. Um vorher nochmal richtig auszuschlafen, beziehe ich im Raum Tauroggen ein Ferienhaus mit rustikalem Interieur, einer Sauna und einem Kamin. Am Abend dann eine Nachricht von Marco: „Die Fähre fällt aus, ich folge dir über Land“.

Zwei Stunden später trifft er ein, mit dem restlichen Bier und selbstgemachten Sandwiches aus der Gussform lassen wir den Abend ausklingen. Als wir am Folgetag nahe der Kaliningrader Grenze nach Polen ausreisen ist vom Schnee nichts mehr zu sehen, die Uhren stellen sich um eine Stunde zurück und das erste Mal seit Tagen zeigt sich die Sonne. Die Summe dieser plötzlichen Veränderungen erscheint mir wie eine sehr abrupte, unsichtbare Grenze welche wir soeben überschritten haben und die für mich das Ende dieser Reise markiert.

Fazit: Das Baltikum hält einiges an unbefestigten Wegen für den geneigten Allradler bereit. Besonders die Wintermonate haben es in Sachen anspruchsvolles Fahren in sich. Mit etwas Glück bieten sie Eisstraßen über die Ostsee, einsame Pisten und ein Ambiente, das dem Skandinaviens ähnelt. Die Region bietet zudem eine interessante Mischung aus Museen und Orten der Erinnerung des vergangenen Jahrhunderts und darüber hinaus.

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2 Kommentare

  1. Ein schöner, gut geschriebener Bericht über eine eher ungewöhnliche Route im Nordosten Europas. Weiter so…

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