4×4-Exkursion: Die Molotov-Linie in Osteuropa

Über Litauen nach Polen, Weißrussland bis in die Ukraine erstrecken sich die Überreste der einstigen Molotov-Linie. Im Sommer 2023 machten wir uns auf, die Bunker zu erkunden und stießen dabei auf Spuren der Vergangenheit, eine abwechslungsreiche Landschaft und spannende Fahrstrecken.

Von der Memel bis in die Karpaten

Die Junisonne zeichnet dunkle Silhouetten der allgegenwärtigen Kiefern auf die Oberfläche des malerischen Waldsees. Hier, irgendwo nahe der Grenze zwischen Litauen und Kaliningrad, haben Ronny und Mandy ihr Nachtlager aufgeschlagen. Man kennt sich über Instagram. Sie sind auf dem Weg nach Norden, ich hingegen komme aus dem lettischen Kurland und fahre gen Süden.

„Wo geht’s denn als nächstes hin?“, fragt Ronny und nimmt einen Schluck des lettischen Biers. „Ich folge der Molotov-Linie gen Süden – von hier bis an die Karpaten. Das sollten so um die 1500 Kilometer sein“, antworte ich und proste ihm zu.

Verlauf der Molotov-Linie
Mit freundlicher Genehmigung der Grupa Badawcza „Kriepost“ (Author: Rafał Bujko)

Wir sprechen bis tief in die Nacht –  sofern man diese als solche bezeichnen kann, feierten die Balten doch gestern erst Mittsommer. So sitzen wir also auch um 0 Uhr noch bei Dämmerlicht zusammen, sprechen übers Overlanden, erlebte Abenteuer und spannende Routen. Am nächsten Tag trennen sich unsere Wege und ich breche auf ins Abenteuer „Molotov-Linie“.

Idylle am Waldsee

Ein vertrautes Gesicht zu Beginn der Tour

Am Folgetag bin ich mit Kęstutis (Kurzform: Kęstas) verabredet, einem jungen Geschichtsstudenten. Wir kennen uns seit meiner Baltikumstour, während der er uns mit Informationen zu den Waldbrüdern versorgte. Folgsam fahre ich seinem weinroten Peugeot hinterher durch die litauische Landschaft, die mit staubigen Pisten und karger Schönheit besticht. Sein Fahrzeug wird dabei nicht geschont – der Ranger und ich beeilen uns, um hinterher zu kommen.

Schon bald stoßen wir auf die ersten Betonklötze nahe der Ortschaft Kalvarija. Kęstas deutet auf Einschusslöcher, benennt Kaliber, die Stärke der Angreifer und Verteidiger, gibt involvierte Bataillone und Divisionen samt Ausrüstung und Stärke an. Ich merke schnell: Hier habe ich den richtigen Mann am richtigen Ort und bin beeindruckt von seiner Expertise. Sein Wissen entspringt vor allem seiner Forschungsgruppe „Kriepost“, deren besonderes Interesse der Molotov-Linie gilt.

Nach dem deutschen Überfall auf Polen im Herbst 1939 schlossen die Sowjets und die Deutschen einen Friedensvertrag, den Molotov-Ribbentrop Pakt. Die Sowjets trauten dem Frieden nicht und beginnen mit dem Bau der Molotov-Verteidigungslinie entlang der deutsch-russischen Demarkationslinie. 1941, beim deutschen Angriff auf Russland, ist die Linie unvollständig und nur teilweise mit Gerät und Soldaten besetzt.

Heute hat Kęstas mich durch die Bunker nahe Kalvarija geführt. Auf Bildern von damals zeigte er mir die vor uns liegenden Bauwerke. Die Fotos  sind datiert auf Juni 1941, den Monat des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Eine Geschichte bleibt mir besonders in Erinnerung: Die Besatzung des hiesigen Bunkers hielt vorerst stand, wurde jedoch zunehmend zermürbt. Im Innenraum steckt noch immer eine 37 mm-Granate im narbigen Beton. Als die Kämpfe vorüber waren, wurden die nahen Dorfbewohner damit beauftragt die Leichen der Besatzung nahe des Bunkers zu vergraben – dort liegen sie noch heute, meint Kęstas und beruft sich auf Aussagen der Dorfbevölkerung.

Tagebucheintrag: polnisch-weißrussische Grenzregion am 26. Juni 2023

Nach einem ereignisreichen Tag überqueren wir am Abend die Grenze zu Polen und steuern die Region westlich von Augustów an. Hier wartet eine heimelig anmutende Blockhütte auf uns – gedacht ist sie als Basis für die nun folgenden Tages-Exkursionen. Auch Tilman und Vaddern treffen nur wenige Minuten nach uns ein. Freudig stoßen wir auf das bevorstehende Abenteuer an – mit polnischem Piwo versteht sich.

Den Bunkern folgend gen Süden

Nach einem zweitägigen Aufenthalt bei Augustów folgen wir der Molotov-Linie weiter quer durch Ostpolen. Auf staubigen Pisten und kleinen Nebenstraßen erkunden wir Bauwerk um Bauwerk. Immer mobil dabei: Kęstas, der nun zwar wieder in Litauen ist, uns jedoch regelmäßig mit lohnenden Standorten und spannenden Informationen versorgt.

Wir kommen im Grunde gut voran, trotz einiger Tücken wie Furten, Schlammwege und enge Passagen. Für mich machen sie den Reiz unserer Allrad-Touren aus. Allerdings mussten wir auch einige Probleme lösen, wie etwa Vadderns Kühler vom Schlamm befreien. Und auch der Ranger erhält einen Volltreffer: Kurz vor unserem Rastplatz für Tag vier der Tour übersehe ich ein aus dem Sand ragendes U-Eisen. Das Ergebnis ist ein Schnitt durch die Reifenflanke. Und das an meinem Geburtstag!

Stellplätze finden wir während der gesamten Exkursion übrigens ausreichend und trotz Sommer- und somit Urlaubszeit sind diese erstaunlich wenig frequentiert. An Tag fünf erreichen wir die Region am Dreiländereck von Polen, Ukraine und Weißrussland und nutzen die Zeit für eine zweitätige Fahrpause bei unserem alten Bekannten Mateusz. Er bewirtete uns bereits 2021 auf unserer Reise durch Polen. Er hilft mir auch mit meinem Platten und besorgt einen Geolandar Reifen, welchen wir später in Przemyśl aufziehen lassen. An dieser Stelle muss Vaddern leider auch schon zurück nach Deutschland aufbrechen. Tilman und ich hingegen machen uns auf den Weg, um den südlichen Abschnitt der Linie zu erkunden.

Dunkle Gewölbe, dunkle Geschichten

Mit jedem weiteren Bunker den wir sehen und jedem Verteidigungsgebäude das wir erkunden, tauchen wir tiefer in die dunkle Geschichte der Vergangenheit ein. Im Juni 1941 startete das Deutsche Reich in dieser Region den Angriff auf die Sowjetunion. Die Molotov-Linie war zu diesem Zeitpunkt noch unvollständig und nur spärlich besetzt. Ausgerüstet mit festem Schuhwerk, langen Hosen und Kopflampen schlagen wir uns mit Macheten durch das Dickicht – einige Bunker scheinen seit Jahren nicht mehr betreten worden zu sein.  Davon zeugen auch unangetastet anmutende Spuren aus jenem Schicksalssommer `41.

Heute führte uns Kęstas zu entlegenen Bunkern nahe der weißrussischen Grenze. Davor haben wir uns bei der polnischen Grenzpolizei registrieren müssen. In diesem Fall gilt „sicher ist sicher“ laut Kęstas. In einem der Gebäude stießen wir auf menschliche Überreste – Zähne, Unterkiefer und Armknochen. Die Gebeine der einstigen Verteidiger. Die örtliche Polizei ist über die Funde informiert, tut aber nichts, meint Kęstas. Die Besatzung ergab sich damals nicht, woraufhin der Bunker mitsamt Besatzung von der Wehrmacht zerstört wurde. Ein grausames Schicksal, dessen Ausmaß uns bei Kęstas Erzählungen sehr erschüttert hat.

Tagebucheintrag: polnisch-weißrussische Grenzregion am 27. Juni 2023

Zwischen Schutt und Staub treffen wir auf Spuren jener Kämpfe: Eine Munitionskiste, Teile von Handgranaten und Patronenhülsen säumen den Weg in einem der Bunker. Das erzeugt eine beklemmende Atmosphäre, als wären die Geschehnisse nur wenige Monate oder höchstens einige Jahre her. Es finden sich zudem noch die kreidig-weißen Installationsskizzen der Bautrupps an den Betonwänden. Einen Raum weiter scheint ein Deutscher den gleichen, weißen Stift genutzt zu haben. Er verewigte sich mit Unterschrift und Datum: 24. Juni 1941 lese ich im Lichtkegel meiner Kopflampe.

Viele der Bauwerke weisen enorme Beschussspuren unterschiedlichen Kalibers und Brüche durch Sprengladungen der deutschen Pioniere auf. Als sich das Kriegsglück 1943 wendete, begann die Wehrmacht die Bunker unbrauchbar zu machen. Zu groß war die Furcht, dass die einstigen Erbauer sie erneut gegen sie verwenden würden.

An Tag sieben unserer Tour treffen Tilman und ich auf Krater von so enormer Größe, dass in ihnen mindestens zwei LKWs Platz finden könnten. Kęstas klärt uns auf: In dieser Region, an der Grenze zwischen Polen und Ukraine, kamen damals zwei Karl-Mörser zum Einsatz. Diese feldgrauen, stählernen Ungetüme mit Geschossgrößen von 60 cm hatten den alleinigen Zweck, die hiesigen Bunker zu vernichten. Zwei dieser Krater liegen nur wenige Meter neben einem nahezu vollständig zerstörten Betonunterstand – und für uns ist es trotz des Anblicks der Zerstörung vor unseren Augen kaum vorstellbar, was die sowjetische Besatzung der Verteidigungsanlagen damals durchmachen musste.

Die Molotov-Linie heute

Besonders die ortsnahen Bauwerke wurden zum Verklappen von Schutt und Müll genutzt, schreibt mir Kęstas, als wir mal wieder inmitten  von Müllbergen stehen. Darüber hinaus nutzte die polnische Armee einige der Bauwerke für Übungszwecke oder um alte Munition zu sprengen. Einige der Gebäude befinden sich in Privatbesitz und dienen in als Lagerschuppen oder Stall. Wie an vielen Orten üblich, integriert die Bevölkerung die Bunker in ihren Alltag – so auch gesehen in Dänemark. Viele der Bunker verkommen jedoch zunehmend oder werden beräumt.

Lediglich das Museum in Przemyśl und Kęstas Forschungsgruppe scheinen die Geschichte dieser Bauwerke am Leben zu erhalten, letztere sogar mit wissenschaftlichen Publikationen. In Weißrussland sieht das anders aus: Jedes Jahr am 22. Juni werden die Gefechte in der Region um Brest durch so genannte Reenactors nachgestellt – etwas zu heroisch für meinen Geschmack. Da scheint es erfreulich, dass zumindest Fledermäuse Gefallen an den kühlen dunklen Gewölben gefunden haben. Wir stoßen auf zahlreiche Bauwerke, die versiegelt und mit Informationstafeln zum lokalen Fledermausbestand versehen sind, freuen uns für die fliegenden Säuger und ziehen weiter zu betretbaren Verteidigungsanlagen.

Karpaten am Horizont

An zehnten Tourtag nähert sich die Exkursion ihrem Ende. Hier im weiten Flachland Polens sind am Horizont bereits die Karpaten sichtbar. Die letzten Bunker haben wir soeben erkundet.

Die Beskiden

Rückblickend gefiel mir diese Exkursion von allen bisher am besten. Die Spuren der damaligen Zeit haben mich nachhaltig beeindruckt. Ebenso hat mich die Abgeschiedenheit und Unberührtheit einiger Bauwerke fasziniert. Nicht zuletzt trug Kęstas dazu bei, dass diese Exkursion mit vielen spannenden Informationen gefüllt wurde. Tilman und ich bereiten uns nun auf die Rückreise durch die Slowakei vor. Unterwegs werden wir den Dukla-Pass überqueren – ein weiterer Geschichtsträchtiger Ort in Osteuropa.

Mich beeindruckten die Spuren der Vergangenheit innerhalb der Bauwerke – als wäre seit 80 Jahren niemand drin gewesen. Die Tour war eine spannende Mischung aus Geschichtswissen und guten Pisten.

– Vaddern

Die Vielzahl der Bunker hat mich beeindruckt. Am interessantesten fand ich die deaktivierten Bunker – als wären ihnen die Zähne gezogen worden. Ebenso fand ich die Spurensuche innerhalb der Bauwerke höchst abwechslungsreich. Alles in allem eine gelungene Tour!

– Tilman

Fazit: Eine Route entlang der Molotov-Linie durch Litauen und Polen bietet aufgrund der verschiedenen Streckenverhältnisse die perfekte Mischung aus Fahrspaß, Geschichte und Abenteuer. Viele zugängliche Bunker auf Feldern und in Wäldern sorgen für reichlich Exkursionsmaterial. Abgerundet wird die Route durch wenig überlaufende Stellplätze und eine abwechslungsreiche Landschaft. Meine Empfehlung für eine Reisezeit: Sommer oder Herbst.

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6 Kommentare

  1. Falls jemand Interesse hat – jeder kann einen Blick auf die Facebook-Seite der Grupa Badawcza „Kriepost“ werfen: https://www.facebook.com/GBKriepost

    Oder sehen Sie sich unsere Karte online an:
    https://kriepost.org/index.php?option=com_wrapper&view=wrapper&Itemid=3&fbclid=IwZXh0bgNhZW0CMTAAAR3YYmqA0zLEWJQxNpvMGnqwq0xoo4ia2LnuFCSyW1dFPhfynXtKjTaaf8s_aem_AYaz6p03Ca3Qb2iDgB9Vr2yg4P093m5T5ZiZNcy-muyRp1mFuLfn9ak_Aw6KUT23x94GGKv-NRpECGUAPfrFb5wV

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    Viel Spaß mit dem Artikel!

    Kęstutis

  2. Danke für diesen Einblick;-).

  3. Immer gern! 🙂

  4. Sehr interessanter Bericht. In den 80er Jahren gab es noch in Oberschlesien zahlreiche frei zugängliche Bunker aller Art. Im Osten Polens offensichtlich heute auch noch.

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