Allradstreifzüge durchs Kurland

Im Winter 2023 erreichten Marco und ich erstmals das Kurland, jene nebulös klingende Region südwestlich von Riga, die mich bereits in den ersten Stunden in ihren Bann zog. Im Folgesommer startete ich, ausgerüstet mit alten Postkarten und Literatur erneut, um die Region näher zu erkunden.

Roter Himmel über Sabile

Sabile, 27. Februar 2022

Wie ein löchriges Laken legt sich der Schnee über die Weinhügel von Sabile. Windschiefe hölzerne Strommasten und marode Holzhäuser ziehen an uns vorbei. Im Westen nähert sich die lettische Wintersonne dem weißen Horizont in ihrer roten Pracht. Marco und ich biegen in die Einfahrt eines alten Weinhofs ein. Als wir uns zu Fuß dem Hauptgebäude nähern, öffnet sich vernehmlich knarzend die Eingangstür aus Holz. Ģirts, ein junger Weinbauer, begrüßt uns lächelnd: „Herzlich willkommen in Kurzeme, dem Kurland!“

Dieser Tagebucheintrag dokumentiert meine erste Berührung mit dem Kurland, jener nebulös klingenden Region südwestlich von Riga, die mich bereits in den ersten Stunden in ihren Bann zog. Kurland (lettisch: Kurzeme) ist heute eine von vier Regionen in Lettland und in etwa so groß wie Schleswig-Holstein.

Die Geschichte der Region reicht bis in das 7. Jahrhundert zurück: Einst war es das Land der Kuren, dann Deutschordensstaat, später Herzogtum und noch später Teil des russischen Zarenreichs. Mich jedoch interessiert besonders die Geschichte ab 1900. Wie hat sich die Region seitdem entwickelt und was ist ihr widerfahren?

Erstkontakt mit dem Kurland: Marco und ich stehen im Panorama von Sabile

Doch nicht nur die Landschaft, sondern ebenso die lebhaften Reisebeschreibungen von Jean-Paul Kauffmann, französischer Journalist und Autor, inspirierten mich, diesen Landstrich genauer unter die Lupe zu nehmen, als es mir bei meiner ersten Reise im Februar 2022 möglich war. So starte ich, ausgerüstet mit alten Postkarten und Literatur, im Folgesommer erneut gen Kurland.

Persönlicher Buchtipp:

In diesem 273-seitigen, englischen Buch berichtet der Autor Jean-Paul Kauffmann von seinen Reisen durch das Kurland. Das Werk ist eine Mischung aus Reisebericht und Geschichtsbuch über das Kurland.


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Überland durchs Kurland

Selbst bei einfacher Ziel-zu-Ziel-Navigation treffen Marco und ich im Februar 2023 hier auf unbefestigte Pisten en masse. Schotterstraßen durchziehen das Land, verbinden Ortschaften und führen zu verlassenen Gehöften. Im Winter sind sie rutschig, aber begrenzt durch den beidseitig hoch aufgeschobenen Schnee – was uns schnell das Gefühl gibt, Teil einer Winterrallye zu sein. Während des einsetzenden Tauwetters sind die Pisten dann mit Pfützen durchsetzt und in Teilen so schmierig wie Lehmgrund.

Im Sommer hingegen erzeugen sie bei der Überfahrt Staub, so voluminös wie die Wasserdampfschwaden eines Kernkraftwerkes. Auch Kaufmann schreibt in seinem Buch „A Journey to Nowhere: Among the Lands and History of Courland“: „Viele Straßen im Kurland sind nicht asphaltiert. Es sind Schotterpisten, die in diesem sehr trockenen Monat […] Staubwolken aufwirbeln, die lange in der Luft verweilen“. Besonders spannend wird es bei Gegenverkehr, der sich stets schon durch die große Staubfahne ankündigt. Gerade die schwer beladenen Holz-Sattelschlepper, deren Richtgeschwindigkeit nicht selten denen von Formel-1-Fahrzeugen zu ähneln scheint, ziehen einen kometenhaften Schweif nach sich. Es fällt schwer nicht die Orientierung zu verlieren, wenn sie am Ranger vorbeirauschen.

„Leere Weiler, verlassene Kleinbauernhöfe, wechselnde Wiesen und Wälder, jede Menge Obstgärten. Holzhaufen neben Gehwegen, Lichtungen und im Boden zurückgelassene Baumstümpfe erinnern immer wieder an die waldreiche Landschaft Kurlands“, so beschreibt Kauffmann die Region am Rigaischen Meerbusen. Auf meinen Streifzügen durchreise ich Orte mit verlassenen Höfen, Holzhäusern und Chruschtschowkas (dt.: Plattenbauten). Ähnlich sieht es Kaufmann, als er schreibt: „Wir passieren Geisterdörfer mit ihren alten germanischen Kirchen und ein paar Holzhäusern. Es ist erstaunlich, in diesen verlassenen Kleinstädten heruntergekommene moderne Häuserblöcke zu sehen.“

Leere Weiler

Kleine Geschichte einer Region

Wir schreiben das Jahr 1904, das Kurland ist wie Gesamtlettland Teil des russischen Zarenreiches. Von Liepāja bricht die baltische Flotte gen Pazifik auf und wird später bei Tsushima vernichtet. Die Landstraßen des Kurlands sind größtenteils unbefestigt. Die Verkehrsschilder sind aus Holz mit schwarzem Lack. Fischer, Bauern und Händler verkaufen ihre Waren auf den Marktplätzen der Städte.

Der Marktplatz von Tuckum (lettisch: Tukums) auf einer Karte von 1917. Noch heute wirkt das Örtchen wie damals. Auf der Rückseite findet sich in deutscher Sprache eine Auflistung von medizinischem Material. Dies, und das Datum sprechen für die Notizen eines deutschen Arztes während des 1. Weltkrieges. So wurde vermerkt: 200 g Jodtinktur, 2 kg Zellstoff-Watte, 1000 g destilliertes Wasser, …

Die Jahre ziehen ins Land bis 1914 der Erste Weltkrieg Europa erschüttert. Im zweiten Kriegsjahr besetzt die Deutsche Armee das Kurland. Im Verlauf des Krieges bekämpfen sich hier Bolschewiken, Deutsche, die weiße Armee und lettische Truppen. 1918 ruft Lettland die Unabhängigkeit aus – der Kampf dafür dauert noch bis 1920 an.

Darauf folgen Jahre des Friedens: Die Fischer von Roja, mit ihren dicken Mänteln und weiß getünchten Holzbooten, gehen auf Sardellenfang. Sie werden im nahen Ort Kaltene zu Konserven verarbeitet. Pferdegespanne ziehen durch die von Holzhäusern geprägte Region. Die Verkehrsschilder sind immer noch aus Holz – jetzt aber in Weiß.

Der Bahnhof Priekule (deutsch: Preekuln) in der Zwischenkriegszeit. Interessant ist der linke Anbau, welcher vermutlich zwischen 1945 und 1990 errichtet wurde. Die Bahnstrecke wurde 1998 stillgelegt und ist heute überwuchert. Auf der Rückseite in Lettisch vermerkt: Viele Ostergrüße!

1939 bricht der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen aus. Im Herbst des selben Jahres werden die Deutschbalten nicht nur aus dem Kurland, sondern aus dem gesamten Baltikum evakuiert und bei Posen wieder angesiedelt. Die zurückgebliebenen Letten ahnen was kommt: Die Rote Armee besetzt das Baltikum, 1941 kommen die Deutschen. Beide Regime verfolgen und ermorden ihre eigenen unbeliebten Minderheiten. Drei Jahre später ist die Rote Armee zurück. Zwischen Spätsommer 1944 und Frühling 1945 wird die Region zum Schauplatz erbitterter Schlachten. Am 8. Mai 1945 ist der Krieg in Europa vorüber und das dritte Reich geschlagen. Auch hier in Kurzeme kapitulieren die Reste der Heeresgruppe „Kurland“.

Lettland wird nun Sowjetrepublik – sehr zum Unmut der Bevölkerung. Die „Waldbrüder“ organisieren sich in Partisanenverbänden und kämpfen bis in die 50er Jahre gegen die sowjetische Okkupation. Doch die Mühe ist vergebens: Die einsetzende „Russifizierung“ betrifft sowohl Sprache als auch Schriftbild. Russische Traktoren, Autos und Architektur kommen in die Region. Es entstehen Militärbasen und Kolchosen nach russischem Vorbild. Am 4. Mai 1990 ist es dann endlich soweit: Lettland erklärt erneut seine Unabhängigkeit. Der eiserne Vorhang ist gefallen.

Das Örtchen Sabile auf einer Karte zwischen 1960 und 1980. Der Ort liegt am Flüsschen Abava in der kurländischen Schweiz ganz in der Nähe von Weinbauer Ģirts.

Auf Spurensuche

„Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ergaben sich viele Wehrmachtsoldaten in Sabile“, berichtet Ģirts bei meiner ersten Tour nach Lettland und befeuchtet seine Kehle mit einem Schluck polnischen Biers. „Ihre Erkennungsmarken fanden wir, neben vielen anderen Ausrüstungsgegenständen, in unserem Brunnen.“ Noch heute suchen hier Grabräuber und zum Glück auch gemeinnützige Vereine nach den Toten beider Seiten. Eine Idee der Schlachten vermittelt das bereits etwas in die Jahre gekommene Kurland-Museum in Zante. Viele der dortigen Relikte stammen aus der Erde des Kurlands.

Ob Kurlandkesselschlacht, die Geschichte der Waldbrüder oder die Überreste des sowjetischen Militärs: Überall können Geschichtsinteressierte auf Überbleibsel des vergangenen Jahrhunderts stoßen. Die von den Sowjets erbaute Radarstation bei Irbene ist immer noch in Betrieb, wenn auch nun als lettische Forschungsstation. Die dafür angelegte Kaserne ist dagegen eine Geisterstadt, welche mich an die apokalyptischen Beschreibungen aus der Metro-Romanreihe erinnern.

Die Geisterstadt Irbene

Baltisches Gestade

Der lettische Poet und Autor Rimants Ziedonis berichtete einst: „Paradoxerweise haben die von der Sowjetarmee auferlegten grenzüberschreitenden Bedingungen die Küste vor einer übermäßigen Entwicklung bewahrt. Es gibt dort noch keine einzige Fabrik. Weder ein Sanatorium noch ein Touristenzentrum.“

Aus meiner Sicht ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis Investoren die Kurlandküste, die immerhin rund 60 % der Regionsgrenze ausmacht, weiter ausbauen werden. Dafür würde auch die Nähe zu Riga sprechen. Schon heute mehren sich hier an der Ostseeküste Campingplätze und Ferienunterkünfte. Doch Kurzeme birgt noch Geheimnisse abseits ausgetretener Pfade: So beispielsweise die versunkenen Bunker nördlich von Liepāja, zwischen denen Marco in der Februarkälte kampierte. Vergeblich wartete er hier auf eine Fähre, die niemals kommen sollte. Doch die sichtbaren Ruinen sind nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs: „Wenige Kilometer nördlich von Liepāja war Karosta, der zweite Marinestützpunkt des Sowjetimperiums mit 26.000 Mann. Bevor die Russen 1994 Kurland verließen, beschlossen sie, alle Schiffe und U-Boote zu versenken, die sie nicht mit nach Hause nehmen konnten. Unzählige Kriegsschiffe liegen auf dem Meeresgrund; es ist unmöglich zu wissen, wie viele. Es heißt sogar, dass Atom-U-Boote versenkt wurden“, so Kauffmann.

Ich selbst verbringe etliche Stunden an der Küste, durchstreife die Dünen, besuche das Fischereimuseum in Roja und wandere durch den Nationalpark Slītere zu welchem auch das Kap Kolka gehört – dem Punkt wo Ostsee und Rigaer Meerbusen zusammentreffen.

Menschen des Kurlands

Ich kann Kaufmann nur bedingt zustimmen, wenn er meint: „Letten, insbesondere Kurländer, halten grundsätzlich Abstand. Mit Ausländern reden sie nicht so leicht. Sie betrachten Schüchternheit als eine Tugend.“ Gerade unser Gastgeber Ģirts ist eine offene, herzliche Person. Er vermittelt mir so viel über Land und Leute, dass ich mit dem Notizen Schreiben kaum hinterherkomme. Und auch in anderen Orten kam ich ohne größere Probleme mit den Leuten ins Gespräch. Ob es solch eine klar zu identifizierende Kurland-Mentalität überhaupt noch gibt? Ich möchte es trotz zunehmender Globalisierung zumindest glauben.

Weiße Nächte an der Düna

Es bleibt für mich nur noch eine Frage offen – was gibt die Kurlandküche her? „Den Restaurants nach zu urteilen, […] ist die Küche bäuerlich geprägt. Schweinefleisch und Kartoffeln stehen an erster Stelle. Hering mit Zwiebeln und Sauerrahm und Lachs mit Dill sind beide köstlich, werden uns aber selten angeboten. Andererseits greifen wir nie auf die unzähligen Sorten weiches Roggenbrot zurück, aromatisiert mit Leinsamen, Sesam oder Kreuzkümmel“, berichtet Kauffmann. Für mich ein weiterer Grund abermals das Land zu bereisen, denn auch ich habe mich noch nicht ausreichend mit den lettischen Köstlichkeiten befasst. Denn wie ihr wisst, heißt es beim Overlanding abends oft: Grill anstelle von Restaurantbesuch.

Fazit: Das Kurland hat für mich einen ganz eigenen Charme, welcher mich an die kroatische Lika oder die griechische Mani erinnert. Abgeschiedene Landstriche, eine gewissen Unaufgeregtheit und die besondere Stille einer bisher noch eher wenig bereisten Region. Allradler werden gerade im Frühjahr und Herbst ihren Spaß haben – ausreichende und abwechslungsreiche Pisten stehen bereit.

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2 Kommentare

  1. Was die Küche betrifft kann ich nur im Bezug auf Litauen sprechen… Grundsätzlich ja artverwandt… Ein Besuch im Restaurant lohnt eigentlich immer… Die Preise sind für uns sehr günstig und ich wurde bis heute nicht ein einziges Mal enttäuscht!!! Ich konnte im Sommer 2023 in Palanga sogar eine Art Kolbasz/Hurka Mix ausfindig machen!!! Sehr sehr lecker!

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